In meinen Greyhawk-Kampagnen verwende ich nicht das Standard-Pantheon der World of Greyhawk. Das ist kein Spleen von mir, sondern es geht auf Gary Gygax selbst zurück. Darauf, wie er Götter in seiner Kampagne eingesetzt hat, als er noch selbst viel gespielt hat. Darauf, wie seine Spieler mit den Göttern interagiert haben. Und darauf, wie am Anfang der 1980er in der World of Greyhawk gespielt wurde.
Pelor, Praios, Lathander. Götter der Sonne. Götter des Guten. Priester mit goldenen Kultgegenständen und weißen Roben. Feinde des Untots. Etc. pp.
Die Idee des Polytheismus ist in unserer Kultur fast ausschließlich geprägt vom Blick auf die griechisch-römische Antike. Sehen wir uns also als Gegenbeispiel Apollo an. Zu verschiedenen Zeiten und Orten ein Sonnengott. Bekannt aber auch für seine Orakel in Delphi, in Pergamon und viele mehr. An anderen Orten wurde er verehrt für seine Macht, Epidemien abzuwehren und Heuschreckenplagen. In Akharnai wurde er als Gott der Straßen verehrt. Als Apollo Lykeios hatte er Macht über Wölfe. Man verehrte nicht einfach Apollo, sondern Apollo Akestor, als Heiler, Apollo Epibaterius, der für Ordnung unter Schiffsbesatzungen sorgte oder Apollo Intonsus, Gott der Sonne und der Jugend. Und selbstverständlich war er auch der Gott der Musik. Ein typisches heiliges Tier war nicht der Löwe oder ein anderes gelbes Tier sondern der Rabe.
Dagegen lesen sich Pelor und die anderen wie ein unambitioniertes Brainstorming zum Thema „Sonne“. Mehr Detail wurde über die Jahre angefügt, aber es bleibt erwartbar und uninteressant. Standards von Fantasy-RSP-Panthea sind Verkörperungen abstrakter Ideale. Gott des Meeres (Poseidon hingegen war auch Gott der Pferde), Gott des Krieges (Athene war auch Göttin der Weisheit), Göttin der Ehe (Hera wurde sogar als geschiedene Göttin verehrt).
Dort, wo man sich auf die Olympier explizit bezieht und diese kopiert (wozu eigentlich die neuen Namen für die Zwölfgötter in DSA?) werden manchmal einige dieser Widersprüchlichkeiten übernommen – nur selten werden neue geschaffen. Damit sind wir aber beim Kern: die griechischen Götter waren durch ihre scheinbaren Widersprüche interessant. Zudem handeln griechische Götter wie eifersüchtige, rachsüchtige, intrigante Menschen.
In Sword & Sorcery-Geschichten haben viele Autoren versucht, Götter spannend zu gestalten. Ein Topos, der einem öfters begegnet, ist der örtliche Gott. So wie Apollo von Tempel zu Tempel eigentlich ein anderer Gott war oder die sumerischen Götter Verkörperungen ihrer Stadt, haust hier der Gott in seinem einzigen Tempel. Der Gott ist manchmal nur ein starker Dämon oder es gibt ihn gar nicht und seine Priester spielen den Gläubigen etwas vor. Götter und Tempel sind einzigartig und speziell. Wenn der Dieb dort einbricht, wird er überrascht von dem, was er vorfindet.
Dementsprechend gestaltete Gary Gygax die Rolle von Göttern in seiner Kampagne. Sie waren für ihn Mittel, die Spieler zu überraschen. Gegner, die man bekämpfen oder befreien könnte. Die Götter, die er selbst entwarf waren Bösewichte wie Iuz oder Pholtus, das satirische Zerrbild evangelikaler Christen.
Gygax Spieler bezogen sich oft auf Götter, die sie aus Film und Comics kannten – oder aus der örtlichen Bibliothek. So tauchte etwa Zeus in Castle Greyhawk auf.
Die Rolle von Göttern in den frühen Veröffentlichungen folgt diesem Muster. Im Jahr 1980 erscheint sowohl Deities and Demigods als auch die Folio-Edition der World of Greyhawk.
Deities and Demigods ermöglicht es den Spielern, die Götter als Patrone zu erwählen, die aus Mythologie und Sword & Sorcery bekannt sind.
Parallel dazu fehlt ein Kapitel zu Göttern im Greyhawk Folio – was die Spielpraxis von Gary Gygax widerspiegelt. Es ist allerdings nicht so, dass Religion im Folio keine Rolle spielte. Immer dort, wo das Spielgeschehen von Religion berührt wird, erwähnt es Gygax. Iuz hat jetzt sein eigenes Reich. Die Hierarchen der Gehörnten Gesellschaft praktizieren „Deviltry“. In der Pale existiert ein Gottesstaat, der keine religiöse Toleranz kennt. Am heiligen Stuhl von Medegia sitzt der Papst des Großen Königreiches.
1980 wurden diese Informationen von vielen Spielleitern und Spielern ganz natürlich mit Deities and Demigods kombiniert. Im Zug des sich ändernden Geschmackes, weg von Sword and Sorcery, hin zu 1980er Fantasy-Romanen, wurde allerdings zunehmend die Forderung laut, ein spezielles Pantheon für Greyhawk einzuführen.
Gary Gygax spielte zu diesem Zeitpunkt kaum noch. Er war verantwortlich für ein wachsendes Unternehmen. Also gab er dem Wunsch der Kunden nach. Len Lakofka veröffentlichte in den Seiten des Dragon das Suel pantheon. Gygax selbst ergänzte seine verspielten, frühen Kreationen um weitere, am Reißbrett für die Veröffentlichung gestalteten Gottheiten. Die wenigsten dieser neuen Götter sind interessant. Wenn Gygax nun einen Todesgott erfindet, dann ist das jetzt einfach der Sensenmann. Er ist… böse, na klar. Das Ergebnis eines unambitionierten Brainstormings zum Thema „Tod“.
Besonders lustlos ist die Verzahnung mit der Spielwelt. Len Lakofka erfindet einfach irgendwelche Götter, anstatt sich die Scarlet Brotherhood und die Schneebarbaren anzusehen und zu überlegen, wie die Interaktion zwischen den letzten Suel-Völkern und ihren Göttern aussehen könnte. Gygax klärt nie auf, welche Götter im Großen Königreich früher verehrt wurden und wie sich dieser Kult zum Bösen wandelte. Ohne größere textliche Veränderungen bei den Beschreibungen wird die Greyhawk-Box 1983 einfach um ein paar Kapitel erweitert. Eine explizite Einbindung der neuen Götter in die Welt findet kaum statt. Anstatt durch die neuen Götter zu gewinnen, verliert Greyhawk durch die Lustlosigkeit dieser Kreationen.
Meine Lösung für dieses Problem ist denkbar einfach. Ich spiele in Greyhawk, als wäre es 1980. Die bekanntesten Panthea aus Deities and Demigods habe ich den Völkern Greyhawks zugeordnet und zusätzlich Gygax Kreationen aus seiner eigenen Kampagne, dem Folio und dem DMG behalten.
Die Suel verehrten einst das Ägyptische Pantheon. Die druidisch orientierten Flan vor allem das keltische. Die Oeridians das griechische. Da die oeridische Kultur die bestimmende Kultur ist, erscheint mir das passend. Der Staatskult im Großen Königreich war damit von Anfang an ambivalent, wie die Olympier. Ein Wandel hin zum Bösen ist leicht vorstellbar. Auf ihrer Flucht an die Ränder der Zivilisation kamen die Suel mit den mächtigen oeridischen Göttern in Kontakt und ahmten diese nach, ergänzt um eigenen Namen und kulturelle Eigenheiten. Daher verehren die Wikinger des Nordens heute den Norse Mythos.
Aus meiner Sicht ist das eines der vielen Beispiele, die zeigen, dass aus dem Spiel erwachsene Kreationen und Praktiken dem selbstbezogenen Weltenbau vorzuziehen sind.